Lass mir was übrig!

Lass mir was übrig!

Die Pan­de­mie hin­ter­lässt auf unse­ren See­len an den merk­wür­digs­ten Stel­len Beu­len und Krat­zer. In mei­ner klei­nen Kern­fa­mi­lie ist es der Fut­ter­neid, der mit jedem Lock­down boh­ren­der wird.

Dabei kommt wirk­lich nicht zu wenig Essen auf den Tisch. Im Gegen­teil. Und auch Süßig­kei­ten haben wir seit Pan­de­mie­be­ginn deut­lich mehr im Haus als zu nor­ma­len Zei­ten. Aber macht uns diese Gewiss­heit sat­ter oder gar zufrie­de­ner? Mitnichten.

Altes Brot wird betrauert

Wir haben hier die unge­schrie­be­ne Regel, dass in die Runde gefragt wird, bevor ein Rest auf­ge­ges­sen wird. Wenn die­ses Pro­to­koll bei pap­pi­gem Knä­cke­brot oder über­rei­fen Bana­nen weg­ge­las­sen wird, ist das in der Regel kein Grund für Streit. Oder bes­ser gesagt: War das bis­lang kein Grund für Streit. Denn wir hat­ten hier letz­tens wirk­lich Trä­nen und Wut beim Kind, weil der Vater es gewagt hatte, den letz­ten Kan­ten drö­ges Weiß­brot von Vor­vor­vor­ges­tern zu essen.

Eis oder Flips?

Kin­der sind so? Nicht nur die. Mein Mann war schwer ent­täuscht, als er am Abend mit­be­kom­men hat, dass das Kind und ich am Nach­mit­tag ein – zuge­ge­ben rie­sen­gro­ßes – Eis aus dem Kiosk hat­ten. Als ich ver­sucht habe, mich mit Angriff zu ver­tei­di­gen “Aber du hat­test Flips im Büro!”, ist umge­hend das Kind in lau­tes Lamen­to aus­ge­bro­chen, weil der Vater die ange­bro­che­ne Flips­tü­te im Büro gelas­sen und nicht mit nach Hause gebracht hat. 

Ich will auch!

Doch ich soll­te bes­ser nicht mit dem Fin­ger auf ande­re zei­gen: Auch ich spüre, wie ich immer häu­fi­ger und drän­gen­der beim Scho­ko­la­de auf­tei­len mei­nen Anteil ein­for­de­re. Dabei mache ich mir nicht mal viel aus Scho­ko­la­de. Mann und Kind muss­ten sich müh­sam daran gewöh­nen, dass neu­er­dings durch drei geteilt wer­den muss. Mein Kind fragt immer noch ein biss­chen schein­hei­lig, ob ich auch wie­der Scho­ko­la­de will. In der Hoff­nung, dass es wie­der so wird wie frü­her und ich abwin­ke und zufrie­den mei­nen Rest Was­ser aus­trin­ke, wäh­rend sie und ihr Vater sich über die Scho­ko­la­den­be­stän­de hermachen.

Aufteilen unter Aufsicht

Aber Pus­te­ku­chen. Mir doch egal, dass das Tei­len kniff­li­ger gewor­den ist. Hat hier schon mal jemand ver­sucht, einen Oreo-Keks in drei Teile zu schnei­den? Das ist schon fast Kunst­hand­werk. Zumal das ganze unter strengs­ter Auf­sicht aller Betei­lig­ten statt­fin­det. Die Szene an unse­rem Küchen­tisch muss man sich ähn­lich vor­stel­len wie Rem­brandts Ana­to­mie des Dr. Tulp. 

Wir brauchen eine Dealer-Waage

Wir über­le­gen inzwi­schen ernst­haft, für sol­che Gele­gen­hei­ten eine Fein­waa­ge anzu­schaf­fen (aka: Dea­ler-Waage). Und tat­säch­lich ist es ja auch so, dass Zucker so wirkt wie Koks. Denn wenn wir Süßes bekom­men, sind wir nicht zufrie­den, son­dern wol­len immer mehr in immer grö­ße­ren Dosen.

Hemmungslos im Urlaub

Gleich zu Beginn des ers­ten Lock­downs lan­de­ten spür­bar mehr Snacks in unse­rem Ein­kaufs­wa­gen. Was auch eine Ent­schä­di­gung für unse­ren aus­ge­fal­le­nen all­jähr­li­chen Oster­ur­laub an der hol­län­di­schen Gren­ze war. Da hat es Tra­di­ti­on, dass wir eine Woche lang unge­hemmt Bamischi­jf, Kaas­rol­let­je und frit­tier­te Mies­mu­scheln mit Cho­co­mel run­ter­spü­len. Eine Woche im Jahr kann man das ohne Beden­ken machen. Aber einen gan­zen Lock­down lang? (Im März war mir noch nicht klar, dass wir im Ver­lauf der Pan­de­mie die Lock­downs nume­rie­ren würden), 

Eskalation ohne die Zuckerbremse

Aber dann ist das mit den Süßig­kei­ten schnell eska­liert. An einem Sams­tag lag ich mit Erkäl­tung flach und Mann und Kind sind allein ein­kau­fen gewe­sen. Ohne mich, die Stim­me der Ver­nunft, wur­den große Men­gen Scho­ko­la­den- und Coo­kies-Eis gebun­kert. Nach dem Ein­kauf ohne pro­tes­tan­ti­sche Zucker­brem­se gab es über Wochen jeden ver­damm­ten Abend Eis­creme zum Nach­tisch und ich muss­te nach dem Essen die Küche ver­las­sen. Kein Witz. Sonst hätte ich jeden Abend auch was abha­ben wol­len, obwohl ich in mei­nem Inners­ten gar keine Lust auf Eis hatte. Das lag auch daran, dass ich schuld­be­wusst an die gan­zen Erd­nüs­se den­ken muss­te, die ich tags­über faust­wei­se ver­tilgt hatte, und die eh schon genug auf die Waage drückten. 

Flucht von mir selbst

Ich bin nicht mehr ich selbst. In nor­ma­len Zei­ten kann ich ohne Qual ande­ren Men­schen beim Eis essen zuse­hen. Im Som­mer dre­hen wir abends manch­mal eine Runde um den Block. Meine Rest­fa­mi­lie dockt dann beim Eis­stand an und ich kann läs­sig das Eis über­sprin­gen, ohne dass ich das Gefühl habe, dass ich mir etwas ver­knei­fe. Aber jetzt? Bleibt mir nur noch die Flucht vor mei­nen unge­wohn­ten Gelüsten.

Königin des Trostessens

Ich frage mich die ganze Zeit, warum wir als Fami­lie aus­ge­rech­net beim Essen so klein­lich wer­den. Klar, Essen ist ein sehr ver­läss­li­cher Trost. Es ist kein Zufall, dass neben Klo­pa­pier auch Pasta zu Beginn der Pan­de­mie aus­ver­kauft war. Was wären wir ohne die Nudel, die Köni­gin des Tros­tes­sens? Aber wir haben wirk­lich genug zu Essen da. Mehr als genug, auch Pasta. Ich hatte am Anfang der Pan­de­mie sogar Vor­rä­te für zwei Wochen ange­legt, falls wir in Qua­ran­tä­ne müss­ten. Das Bun­des­amt für Bevöl­ke­rungs­schutz und Kata­stro­phen­hil­fe wäre stolz auf uns gewesen.

Kontrolle im Kleinen

Es muss noch mehr dahin­ter ste­cken. Ich bin über­zeugt, dass vie­les an Kon­flikt und Kri­sen in die­sen Zei­ten mit Kon­trol­le zu tun hat. Und vor allem mit dem Ver­lust davon. Nichts kön­nen wir mehr kon­trol­lie­ren, alles ent­glei­tet uns. Wir wer­den kon­stant und in allen Lebens­be­rei­chen seit über einem Jahr fremd­be­stimmt — vom Virus, der Pan­de­mie, der Regie­rung, dem Lock­down und den Pim­mel­na­sen und Alut­hü­ten, die die Chose unnö­tig in die Länge zie­hen. Da braucht es Kon­trol­le im Klei­nen. Wenn ich schon kei­nen Ein­fluss dar­auf habe, wie die Impf­do­sen ver­teilt wer­den, dann wer­den in unse­rer Fami­lie wenigs­tens die Bal­sa­mi­co Chips gerecht auf­ge­teilt. Bis auf den letz­ten Brösel. 

Gönn dir!

Gleich­zei­tig ist diese große Sehn­sucht da, der all­um­fas­sen­den Kon­trol­le und dem Ver­zicht auch mal zu ent­kom­men. Wenn wir uns Urlaub, Fami­li­en­be­su­che und Umar­mun­gen ver­knei­fen müs­sen, dann wol­len wir uns wenigs­tens am Keks­re­gal nicht ein­schrän­ken. Gönn dir. Erlaub dir, das Leben ist streng genug. Eine ähn­li­che Hal­tung hatte ich mir zwi­schen­zeit­lich auch beim Thema Rot­wein ange­wöhnt, was aus meh­re­ren Grün­den pro­ble­ma­tisch ist. Vor allem kann ich bestä­ti­gen, dass es nicht hilf­reich ist, in psy­chisch for­dern­den Zei­ten gewohn­heits­mä­ßig Alko­hol zu trin­ken. Aber keine Sorge. Im Dry Janu­ary bin ich aus der Gewohn­heit wie­der gut raus­ge­kom­men. Mit mei­nem Erd­nuss­kon­sum gestal­tet sich das alles etwas schwieriger.

Kein Mittelweg bei Futterneid

Und jetzt? Unser Süßig­kei­ten­kon­sum hat sich über die Mona­te und unter­schied­li­chen Lock­downs halb­wegs ein­ge­pen­delt, der Fut­ter­neid nicht. Ich glau­be ja an den Mit­tel­weg. Aber wo soll der bei Fut­ter­neid liegen? 

Rituale geben Halt

Bei Rat­lo­sig­keit halte ich mich gerne an Regeln und Rou­ti­ne fest. Und so ist der fami­liä­re Fut­ter­neid inzwi­schen ein fes­tes Ritu­al gewor­den. Wer­den die Reste einer Keks­pa­ckung auf­ge­teilt, gibt es aus­führ­li­ches Pala­ver und Necke­rei, wie man die übri­gen zwei Kekse fair durch drei teilt und im Anschluss sei­nen Anteil am bes­ten vor den gie­ri­gen Bli­cken der ande­ren schützt. Wir nen­nen das Pro­blem beim Namen, was ja oft schon der erste Schritt zur Lösung ist. 

Nüsschen ausschleichen

Bleibt noch meine Erd­nuss­ab­hän­gig­keit. Die ver­su­che ich in den Griff zu krie­gen, indem ich die Nüsse aus­schlei­che. Es gibt im Wech­sel Erd­nuss­ta­ge und Möhr­chen­ta­ge (damit es auch ohne Erd­nuss im Mund knurbst). Das klappt im gro­ßen und gan­zen ganz zufrie­den­stel­lend. Das macht Mut für das Pro­jekt Scho­ko­la­den­ent­wöh­nung. Aber das star­te ich wohl erst nach der Pandemie.

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