Generation Schluckimpfung
Es war für mich keine Frage, dass ich mich für eine Covid-19-Impfung entscheiden werde. Ich habe mich impfen lasen, sobald ich die Möglichkeit hatte. Dabei ist meine persönliche Impfgeschichte von viel Angst und wenig Kooperation geprägt — an beiden Enden der Spritze.
Reale Gefahr
Ich bin ja noch mit dem Spruch “Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam” aufgewachsen. In meiner Kindheit war die Bedrohung durch Polio tatsächlich real und der Kampf dagegen noch nicht gewonnen. Entsprechend wurde großflächig für die Impfung geworben. Ich erinnere mich an Plakate mit einem Kind an Krücken und an Werbespots mit fröhlichen spielenden Kindern, in denen am Ende bedrohlich dieser Satz kam. Das hat Eindruck hinterlassen.
Pockenimpfung verpasst
Ich habe als Kind der 70er-Jahre einige Reihenimpfungen erlebt, sowohl gegen Kinderlähmung als auch gegen Röteln. Gegen Pocken bin ich merkwürdigerweise nicht geimpft worden. Ich glaube, da habe ich im Vorfeld so viel Theater gemacht, dass meine Eltern sich das geschenkt haben. Oder habe ich bei der Impfung bis zum Abbruch geschrieen? Ich muss zugeben, dass einige meiner Arztbesuche als Kind in Geschrei und Tumult geendet sind. In meiner Erinnerung fließt vieles ununterscheidbar ineinander. Meine Eltern sind verstorben, die kann ich nicht mehr fragen. Eigentlich galt in meiner Kindheit noch die Impfpflicht für Pocken. Keine Ahnung, wie ich da durchgeschlüpft bin. Meine jüngere Schwester ist auf jeden Fall dagegen geimpft worden.
Süße Impfung
Sehr genau kann mich allerdings daran erinnern, dass es die Impfung gegen Polio als Tropfen auf einem Stück Würfelzucker gab. Ich hatte schon immer Angst vor Spritzen und diese Art von Impfung war genau nach meinem Geschmack. Und es hat mich als Kind lange beschäftigt, warum man nicht alles, was man sonst spritzt, zusammen mit Zucker verabreichen kann.
Spritzentrauma
Meine Angst vor Spritzen ging soweit, dass ich mir als Viertklässlerin bei meiner zweiten Tetanus-Impfung einen Ringkampf mit unserem Hausarzt geliefert habe. Als er mit der Spritze kam, habe ich ihn an beiden Händen festgehalten und verzweifelt von mir weggeschoben. Vielleicht hätte mir meine große Schwester vorher nicht erzählen sollen, dass die Nadel der Spritze “sooo lang” ist und bis zum Anschlag in meine Pobacke reingehauen wird. Meine Mutter und die Arzthelferin haben mich überwältigt, gepackt und über die Behandlungsbank gespannt. Der Arzt hat mir dann ungerührt die Spritze in einen sehr angespannten Muskel gejagt. Danach habe ich zwei Wochen ein schmerzendes Bein hinter mir hergezogen und hatte Jahrzehntelang panische Angst vor Spritzen. Aber das ist ein anderes Thema. Nur soviel dazu: Meine Auffrischungsimpfung für Tetanus habe erst mit über Dreißig machen lassen.
Wie beim Tierarzt
Gegen Röteln wurden wir Mädchen in der siebten Klasse in der Schule geimpft. Das Wort Reihenimpfung ist hier wörtlich zu verstehen: Wir mussten uns hintereinander anstellen und wurden dann zack, zack im Stehen mit einer Impfpistole geimpft. Dass Impfpistolen heutzutage vor allem in der Tiermedizin eingesetzt werden, sagt einiges über diese Methode aus. Auf jeden Fall war das noch zu Zeiten, bevor man sich in Schleswig-Holstein Gedanken über HIV gemacht hat.
Tränen und Ohnmacht
Ich habe beim warten in der Schlange erst Witzchen gemacht und wurde umso wimmeriger, je näher ich der Nadel rückte. Schließlich habe ich vor Angst geheult und auch ein bisschen geschrien beim Piks. Immerhin habe ich ohne weiteren Widerstand den Arm hingehalten. Ein Mädchen aus der Parallelklasse ist direkt nach der Impfung kreidebleich geworden, hat noch leise gemurmelt, dass ihr ganz komisch ist und ist dann zusammengebrochen. So war das damals.
Kollaps? Normal
Kurz: Ich bin mit der Selbstverständlichkeit von Impfungen aufgewachsen und dem Bewusstsein, dass sich beim Impfen meine persönliche Befindlichkeit den Sachenzwängen unterordnen muss. Und auch damit, dass selbst heftige Impfreaktionen dazu gehören. Der erwähnten Mitschülerin ging es übrigens schnell besser. Sie hat später drei Kinder bekommen und taucht zu jedem Jahrgangstreffen putzmunter auf. Keine Spätfolgen also. Das muss ja neuerdings dazu gesagt werden.
Es braucht alle
Ich habe noch ältere Herrschaften aus Berlin kennengelernt, eine davon nach Kinderlähmung im Rollstuhl, die die Polio-Epidemie in Berlin 1947 miterlebt haben. Viele Kinder waren damals erkrankt und jeder von ihnen kannte jemanden, der die Krankheit nicht überlebt hat. An diese Begegnung muss ich bei den Debatten ums Impfen oft denken. Dass Kinderlähmung in Deutschland inzwischen der Vergangenheit angehört, verdanken wir langjährigen Impfkampagnen. Und der Bereitschaft der breiten Bevölkerung, sich daran zu beteiligen. Solche Krankheiten verschwinden nicht von allein.
Sieg über Pocken
Ich kann mich auch noch daran erinnern, wie ich mit einem Mitschüler über die Zeitungsmeldung gesprochen habe, dass ein Koch aus Somalia Ende der 70er-Jahre als letzter Mensch eine Pockenerkrankung überlebt hat und die Pocken als besiegt galten. Übrigens dank einer weltweiten Impfpflicht.
Geimpft im Reich
Zum Thema Impfpflicht gibt es ja den schönen Twist, dass auf den Demonstrationen der Querdenken-Szene gerne mit der Reichsflagge von 1871 herumgewedelt wird. Dabei wurde ausgerechnet im Deutschen Reich 1874 eine Impfpflicht für Pocken eingeführt, die erst 1976 abgeschafft wurde. Aber mit der eigenen Geschichte haben es ja viele in der Querdenken-Szene eh nicht so.
Durchgeimpft
Jetzt wollte ich über mich und meine Erfahrungen mit dem Impfen schreiben und lande bei der Querdenken-Bewegung und damit bei den Impfgegner:innen. Viele von ihnen sind genau wie ich als Kind nach Empfehlung oder Pflicht ohne viel Papperlapapp durchgeimpft worden. Wir haben also ähnliche Erfahrungen beim Thema Impfen gemacht, aber sehr unterschiedliche Schlüsse daraus gezogen.
Faktenresistent
Ich muss gestehen, dass ich mich über die Impfgegner:innen kolossal ärgere. Aber warum? Und wen meine ich mit Impfgegner:innen genau? Es geht mir nicht um jene Menschen, die Ängste beim Thema Corona-Impfung haben. Ich kenne Menschen in meinem Umfeld, die sich nicht impfen lassen möchten, weil sie von der rasanten Entwicklung der Impfstoffe verunsichert sind. Wo der Schwager, der Arzt ist, sich auch nicht impfen lässt. Und wo ein Onkel nach der Impfung gestorben ist. Der war zwar schon krank, aber wer weiß … Das ist eine Haltung, gegen die man zwar die bekannten Fakten setzen kann. Aber gegen ein Unbehagen kann man nicht rational argumentieren.
Wirre Gerüchte
Das kann wahrscheinlich nur mit der Zeit weggehen. Wenn immer mehr Menschen geimpft sind und weiterhin mopsfidel durch die Nachbarschaft spazieren. Übrigens entgegen der Voraussagen aus der Querdenken-Szene, nach denen die Geimpften im Herbst fast alle sterben werden. Und das leitet gleich zu den Leuten über, über die ich mich ärgere.
Verweigerung als Kult
Ich rege mich über diejenigen auf, die aus ihrer Verweigerungshaltung zur Covid-19-Impfung einen Kult machen. Die sich bei Facebook extra Rahmen für das Profilfoto zulegen à la “Ungeimpft und das bleibt auch so!”, damit auch schon von Ferne klar ist, dass es hier keinen Verhandlungsspielraum gibt. Diese Leute machen aus ihrer persönlichen Entscheidung ein Bekenntnis. Und zwar ein Bekenntnis gegen den Gemeinsinn.
Zwang hilft
Wir, also die Menschheit, sind einige mörderische Krankheiten nur mit weltweiten Impfkampagnen losgeworden. Über Jahrzehnte haben Menschen ihr Ego der guten, ja lebenswichtigen Sache untergeordnet und als Konsequenz sich und ihre Kinder geimpft. Und ja, das ging zum Teil auch nur, indem die Staaten ihre Bürger:innen zur Impfung verpflichtet haben. Indem man das Wir über das Ich gestellt hat. Nur so hat es funktioniert, dass Pocken heutzutage kein Thema mehr sind. Und wir können mehr als heilfroh sein, dass wir die hochgradig ansteckenden Pocken besiegt haben, bevor die Menschen so mobil waren, wie sie es heutzutage sind.
Keine Solidarität
Die Impfgegner:innen dagegen interessieren sich nur für ihren eigenen Oberarm. Dass andere Menschen, die nicht geimpft werden können, ihre Solidarität brauchen, ist ihnen schnuppe. Hier zählt nur das Ich. Als 2019 das Masernschutzgesetz mit einer damit verbundenen Impfpflicht verabschiedet wurde, habe ich aus der Querdenken-Szene niemanden protestieren gehört. Dabei hat es gerade um die Masernimpfung in den letzten Jahren viele besorgte Diskussionen gegeben. Doch der laute Aufschrei der Empörung ist ausgeblieben. Warum? Weil das Thema Masern offensichtlich die Menschen dieser Szene nicht persönlich betroffen hat. Ich vermute, zu wenige von ihnen haben Kindergarten- und Schulkinder, bei denen eine Impfung nachgewiesen werden musste. Es ist wie so oft: Menschen gehen dann auf die Barrikaden, wenn ihre persönlichen Privilegien eingeschränkt werden — in diesem Fall, weil von ihnen Maske, Test oder Impfung gefordert werden. DaS ISt DiKtATUR!1!!!!
Klei mi anne Fööt!
Ich rege mich viel über diese Leute auf. Aber ich arbeite daran, dass sie mir egal werden. Nach dem Motto: Ich bin geimpft, also klei mi anne Fööt! Das klappt nur bedingt, weil mein Kind nicht geimpft ist und trotz geringer Gefährdung der Kinder ein ungutes Gefühl bleibt. Weil mir die Belegschaft in den Kliniken leid tut, die die persönliche Entscheidung der Ungeimpften ausbaden müssen. Weil mir davor graust, wie es in den Schule weitergehen wird, wenn im Herbst die vierte Welle einen Peak bei den Infektionszahlen erreicht. Und weil ich mich schlicht nach einem halbwegs normalen Leben sehne, für das wir die Impfungen brauchen.
Durchhalten
Aber immer positiv bleiben. Wir sind mehr. Sehr viel mehr. Und ich habe als Zeitzeugin erlebt, wie Pocken besiegt und Polio in seine Schranken verwiesen wurde. Es gibt also Hoffnung, dass ich in absehbarer Zeit einen Drosten-Podcast hören werde, in dem der Berliner Virologe erklärt, wie das Virus endemisch geworden ist und was bei der Kombi-Impfung mit Grippe beachtet werden muss. Und bis dahin: Durchhalten und die Hände waschen.