Die Extraportion Schule
Nicht erst seit der Pandemie läuft ohne Homeschooling hierzulande nichts – für mich ist vor allem die Auslagerung von Wissensvermittlung in die Familien eine zentrale Ursache für die chronische Schulmisere.
Jede neue PISA-Klatsche erinnert uns daran: Das deutsche Schulsystem scheitert inzwischen selbst am Vermitteln der simpelsten Lerninhalte. Mein Kind ist seit fünf Jahren in der Schule und ich kann aus nächster Nähe sehen, wie verkorkst das System ist. Und wie sich viele Lehrkräfte tagtäglich ein Bein ausreißen, um den Laden trotzdem irgendwie am Laufen zu halten und ihren Schüler:innen so viel wie möglich beizubringen.
Die Schule nimmt nicht alle mit
Doch weil es in unserem Schulsystem nicht vorgesehen ist, fehlt es an Zeit und Raum, um Kindern Wissen grundlegend und individuell angepasst zu vermitteln. Was die Kinder im Unterricht nicht begreifen, nehmen sie als ungelöstes Problem mit nach Hause. Wenn die Kinder Glück haben, werden sie da von Eltern erwartet, die über Zeit, Bildung und Energie verfügen, um Stoff zu erklären, mit eigenem Wissen zu ergänzen oder zur Not zu googeln. Mein Kind kommt ohne größere Probleme in der Schule mit, aber selbst ein gut beschulbares Kind bringt oft genug Fragen zum Schulstoff mit nach Hause.
Nachhilfe am Küchentisch
Und hier kommen wir, die Eltern, ins Spiel. Meine Homeschooling-Einlagen sind gewiss keine Sternstunden der Pädagogik und mit dem Abfragen vom kleinen Einmaleins, während ich das Abendessen koche, mache ich mich beim Kind nicht sonderlich beliebt. Aber dieser elterliche Einsatz bewahrt mein Kind davor, zurückzufallen, wenn es etwas einmal nicht verstanden, im Unterricht nicht aufgepasst oder schlicht ein Motivationstief hat. Glück gehabt.
Ratlos am Nachmittag
Denn wer das nicht hat – und das sind viel zu viele Kinder in diesem Land – hat Pech. Ich erinnere mich noch an meine Gymnasialzeiten, als ich als Kind von Nicht-Akademikern oft genug nachmittags ratlos vor meinen komplizierten Mathe-Hausaufgaben und den ellenlangen Latein-Übersetzungen gesessen habe. Es war in der Schule nicht vorgesehen, dass sich schwächere Schüler:innen den Stoff noch einmal erklären lassen können. Zu Hause war niemand da, der hätte helfen können. Und Geld für Nachhilfe war auch nicht im Budget vorgesehen. Ich habe mich irgendwie durchgebissen. Der Latein-Stoff war über Fleiß zu bewältigen, Mathe habe ich als Krisenfach bis kurz vors Abitur mitgeschleppt. Aber immerhin hatte ich einen halbwegs soliden Grundstock an Bildung. Für Kinder in der Grundschule, die schon beim Erlernen der Basics ratlos und ohne Hilfe vor ihren Hausaufgaben sitzen, bedeutet diese Überforderung den Beginn einer Wissenslücke, die sich ohne zusätzliche Förderung nicht mehr schließen lässt und erfahrungsgemäß nur noch größer wird.
Chancengleichheit als Staatsräson
Wir brauchen endlich eine Schule, die alle beim Lernen so abholt und mitnimmt, damit Homeschooling überflüssig wird. Eine Schulreform ist überfällig, das wissen alle, aber es wird nichts unternommen. Das liegt daran, dass die Sorgen und Probleme von Kindern und Familien, denen Ressourcen fehlen und die man als abgehängt umschreibt, in der Regel Menschen an der Macht wenig bis gar nicht interessieren. Aber so langsam sollte allen in diesem Land dämmern, dass die ganze Gesellschaft ein Problem bekommt (wenn nicht sogar schon hat), wenn es nicht endlich zur Staatsräson erklärt wird, dass ausnahmslos alle Kinder faire Chancen bekommen und gefördert werden müssen. Menschen mit Schwächen und Defiziten hängenzulassen, war schon immer ein mieser Zug. Aber in nicht allzu ferner Zukunft wird diese schäbige Art, mit Menschen umzugehen, auch dem privilegierten Teil der Gesellschaft auf die Füße fallen.
Probleme lösen, nicht nur diskutieren
Wenn ich mir die Mitschüler:innen meines Kindes anschaue, erschweren holprige Deutschkenntnisse bei vielen Kindern das Lernen. Natürlich sollten alle Menschen, die hier dauerhaft leben, solide Deutsch sprechen und lesen und ihren Kindern vermitteln können. Und ja, es ist ein riesiges Problem, dass das in der Realität nicht so ist. Wir können auch noch ein paar Jahre weiter darüber debattieren, wer daran mehr oder weniger Schuld trägt und was wir alles in den vergangenen Jahrzehnten versemmelt haben. Oder wir machen endlich eine ehrliche Bestandsaufnahme und überlegen zusammen, wie wir das Problem lösen können.
Betreuung auch für Prinzessinnen
Wenn alle Kinder in der Schule eine Chance haben sollen, muss die Förderung schon vorher anfangen. In der Krippe, in der Kita, in der Vorschule. In einem Land wie Spanien gehen quasi alle Kinder schon ab drei Jahren in die Vorschule. Mich haben seinerzeit die Bilder der Tochter vom spanischen Kronprinzen beeindruckt. Die ist wie alle anderen im Land auch mit drei Jahren in Schuluniform von den Eltern zur Vorschule gebracht worden. Während hierzulande eine Kita-Pflicht bislang nicht mehrheitsfähig ist, weil sich vor allem privilegierte Familien vom Staat ungern in die Erziehung reinreden lassen, geht anderswo sogar der Nachwuchs von Königs in die Betreuung.
Kinder statt Dienstwagen fördern
Eine breite und möglichste frühe Förderung von Kindern braucht Geld. Viel Geld. Gut ausgestattete Schulen gibt es auch nicht im Sonderangebot. Aber ein Land, das Dienstwagen und Kerosin subventioniert, sollte auch noch ein paar Milliarden für die Investition in die eigene gesellschaftliche, soziale und letztlich auch wirtschaftliche Zukunft übrig haben. Bildungserfolg darf keine Frage von Glück oder Pech sein und ob es zu Hause Ressourcen für die Extraportion Schule gibt.
Vor einigen Jahren stand an einem Gebäude nahe dem Hauptbahnhof ein Kennedy-Zitat, an dem ich oft vorbeigeradelt bin: “Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung: keine Bildung”. Das sollte man an die Wände aller Kitas und Schulen in diesem Land meißeln. Oder meinethalben auch sprayen, wenn kein Geld für den Steinmetz da ist.