Laufen lassen

Laufen lassen

Ich will nicht lange um den hei­ßen Brei her­um­re­den: Ich habe die Dinge gerne unter Kon­trol­le. Nur so kann ich sicher sein, dass alles tat­säch­lich genau so ist wie ich es mag und wie ich es für rich­tig halte. 

Default by Nature

Das ist natür­lich nur die halbe Wahr­heit. Ich halte meine Sicht auf Dinge nicht für rich­tig. Sie IST rich­tig. Wo ich bin, ist die Mitte. Ich bin das Maß aller Dinge. Was ich weiß, ist All­ge­mein­wis­sen, den Rest muss man nicht wis­sen. Default by Natu­re sozu­sa­gen. Aber das kann ich natür­lich nicht ein­fach offen sagen. Das muss unter uns bleiben.

Kontrolle ist lästig

Es wird nie­man­den über­ra­schen, dass diese Hal­tung das Zusam­men­le­ben mit mei­nen Mit­men­schen zuwei­len belas­tet. Denn meis­tens bleibt es ja nicht beim kon­trol­lie­ren, son­dern geht flie­ßend ins kor­ri­gie­ren über. Ich hänge zum Bei­spiel die nasse Wäsche auf dem Stän­der um, damit sie rich­tig hängt. Also jetzt mal ehr­lich: Wie kann man Wäsche so auf­hän­gen, dass sie NICHT auf der Naht liegt? Oder wenn mein Mann kocht, kommt es vor, dass ich ganz bei­läu­fig einen Blick über seine Schul­ter in der Pfan­ne werfe und kurz den Ölstand che­cke (“MUSS das so fet­tig sein?”). Am stärks­ten ist aller­dings meine Toch­ter von mei­nen Kon­trol­len und Kor­rek­tu­ren betrof­fen. Ich frage im Vier­tel­stun­den­takt nach, ob ihr warm genug ist (“Bist du SICHER, dass du nicht doch lie­ber Haus­schu­he anzie­hen willst?”), erin­ne­re sie daran, genug Was­ser zu trin­ken und renne aus­dau­ernd mit Creme­tu­ben hin­ter ihr her, um ihre gestress­ten Win­ter­hän­de zu pflegen.

Gut aufgehängt ist halb gebügelt

Das Ergeb­nis mei­ner Bemü­hun­gen ist ehr­lich gesagt durch­wach­sen. Was meine Wäsche betrifft, bin ich zufrie­den. Gut auf­ge­hängt ist halb gebü­gelt. Und ich hänge in einem Akt tie­fer Selbst­er­kennt­nis nur meine eige­ne Wäsche um. Wenn der Gatte knitt­ri­ge T‑Shirts tra­gen will — Bitteschön. 

Vergrämt durch Opernmusik 

Was meine Kon­troll­gän­ge in der Küche betrifft, hat mein Mann mir klar zu ver­ste­hen gege­ben, dass er es enorm schätzt, beim kochen allei­ne zu sein. Er unter­streicht die­sen Wunsch, indem er grund­sätz­lich Musik bei der Küchen­ar­beit hört, bevor­zugt dröh­nend laute Opern­ari­en, die bei mir regel­recht kör­per­li­ches Unbe­ha­gen aus­lö­sen. Ich glau­be der Kam­mer­jä­ger spricht hier von ver­grä­men. Auf jeden Fall habe ich end­lich ver­stan­den, warum man in den Ham­bur­ger U‑Bahnhöfen den gan­zen Tag Klas­sik­mu­sik dudelt, um die Leute zu vertreiben. 

Lass mich!

Und meine 8‑Jährige? Bei der hängt es von der Tages­form ab, wie sie meine gut gemein­ten Ein­grif­fe in ihr Leben (“Willst du nicht DOCH noch mal auf die Toi­let­te gehen?”) ver­at­met. An guten Tagen kommt die Auto-Ant­wort “Mir geht’s super”, für die sie nicht ein­mal vom Tablet auf­blickt. An schlech­ten Tagen explo­diert sie und bellt mir “Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht muss” ent­ge­gen oder ein schlich­tes “Lass mich!”

Reibungen sind vorprogrammiert

Es braucht kei­nen Mas­ter in Psy­cho­lo­gie, um zu erken­nen, dass diese Ver­zah­nung schon in nor­ma­len Zei­ten für reich­lich Rei­bun­gen inner­halb der Fami­lie sorgt. Jetzt im Lock­down hocken wir an sie­ben Tagen in der Woche vier­z­und­zwan­zig Stun­den auf­ein­an­der. Mein Mann kann in sein Büro radeln (er ist der ein­zi­ge dort) und kommt jeden Tag acht Stun­den raus. Aber das Kind hat ohne Schu­le und Hort keine Chan­ce, mei­nen wohl­mei­nen­den Rat­schlä­gen  zu ent­kom­men. Es bekommt täg­lich eine kras­se Über­do­sis Mama­wei­ßes­bes­ser ab. Arme Sau. 

Eskalation im Homeschooling 

Beson­ders ver­läss­lich eska­lie­ren meine Kon­troll­ver­su­che beim Thema Home­schoo­ling. Wäh­rend das Kind den abge­hef­te­ten Wochen­plan abar­bei­tet, ver­su­che ich gewis­sen­haft, es irgend­wie vom trö­deln abzu­hal­ten. Was dann grund­sätz­lich zu Streit und zusätz­li­cher Ablen­kung führt und diese unschö­ne Ver­an­stal­tung noch mehr in die Länge zieht. An ganz mie­sen Tagen haben wir von mor­gens bis in den Nach­mit­tag hin­ein an den Auf­ga­ben her­um­ge­würgt. Immer­hin waren wir uns beide darin einig, dass das eine scheuß­li­che Erfah­rung war und wir so etwas in Zukunft drin­gend ver­mei­den wollen.

Ohne mich läuft es besser

Und dann gab es die­sen magi­schen Mor­gen, an dem ich mein Kind daran erin­nert habe, dass am frü­hen Nach­mit­tag eine Freun­din zum spie­len kommt (ja, mein Kind hat sich wäh­rend des Lock­downs indoor mit einem ande­ren Kind getrof­fen und tat­säch­lich immer mit dem­sel­ben). Und dass wir an die­sem Tag deut­lich schnel­ler mit den Auf­ga­ben durch­kom­men müssen. 

Ich bin dann zu mei­nem mor­gend­li­chen Spa­zier­gang auf­ge­bro­chen und habe bei mei­ner Rück­kehr ein hoch­zu­frie­de­nes Kind vor­ge­fun­den, das die Arbeits­zet­tel des Tages zum gro­ßen Teil erle­digt hatte. Ein­fach so und in einem Vier­tel der Zeit. Obwohl ich mich raus­ge­hal­ten hatte. Oder etwa WEIL ich mich raus­ge­hal­ten hatte? 

Vertrauen haben

Es ist nicht so, dass mich der Gedan­ke nicht schon vor­her gestreift hätte, dass meine Hilfe eher hin­der­lich ist. Aber jetzt hatte ich den Beweis: Ohne mich läuft es stress­frei­er — und bes­ser! Für uns alle. Seit­dem reiße ich mich tat­säch­lich sehr viel mehr am Rie­men, die Dinge auch mal lau­fen zu las­sen und zu ver­trau­en, dass sich alles zurecht­schüt­telt. Das ist nicht gera­de mein Kern­kom­pe­tenz, aber wenn ich es schaf­fe, werde ich direkt belohnt. Nicht immer, aber oft genug, um posi­tiv ver­stärkt zu wer­den. Ja, es gibt wei­ter­hin Tage, an denen ich mein Kind an die Hand neh­men und jede ein­zel­ne Mathe­auf­ga­be anmo­de­rie­ren muss. Und wenn ich dann zu viel Druck mache, rappelt’s wie­der im Kar­ton. Aber dann gibt es eben auch Tage, an denen mein Kind mich auf mei­nem Mor­gen­spa­zier­gang anruft und mir freu­dig mit­teilt, dass es schon drei von vier Zet­teln erle­digt hat.

Alles Idylle in Bullerbü?

Und jetzt? Alles Idyl­le in Bul­ler­bü? Wohl kaum. Ich bin ja immer noch die­sel­be. Aber ich habe nicht nur einen Hang zum kon­trol­lie­ren, son­dern auch die Fähig­keit zum reflek­tie­ren. Jawoll. Mein Kind lebt jetzt tat­säch­lich mit einer län­ge­ren Leine und wir alle mit weni­ger Stress. Dass seit kur­zem wie­der Prä­senz­un­ter­richt statt­fin­det, hilft zusätz­lich. Jetzt sind die Lehr­kräf­te wie­der dran mit kon­trol­lie­ren und kor­ri­gie­ren. Aber meine Wäsche hänge ich immer noch um.

 

Stay tuned.

 

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