Ich esse schmutzig
Bevor ich mich über Leute aufrege, die das Essen zu ernst nehmen, sollte ich klarstellen, dass ich jemand bin, der das Essen ernst nimmt. Ich verbringe zum Beispiel viel Zeit damit, im Supermarkt vor den Regalen zu stehen und die Zutatenlisten auf den Packungen zu studieren. Ich werde als Verbraucherin derartig beschubst, wenn es um Lebensmittel geht, dass ein genauer Blick auf das Kleingedruckte für mich erste Bürgerinnenpflicht ist. Ich bin dafür von meinem Umfeld durchaus schon mit dezentem Augenrollen bedacht worden, aber das nehme ich in Kauf. Essen gehört ohne Zweifel zu meinen Reizthemen.
Mischkost rules
Grundsätzlich bin ich damit zufrieden, wie meine Familie und ich uns ernähren. Wir sind überzeugte Mischköstler. Wir kochen fast immer selber, essen wenig Fleisch, viel Gemüse, leider zu wenig Fisch und zwischendurch auch mal Vollkorn. Wir mögen gerne Brot, Pasta, Reis und Kartoffeln. Oder anders gesagt: Wir lieben Kohlenhydrate. Und nicht nur das: Wir essen Weizen. Und nein, wir sind nicht schlapp, gereizt und haben ständig die Furzerei. Damit scheinen wir Exoten zu sein — zumindest nach den Regeln des Clean Eating sollten wir uns unpässlich und vergiftet fühlen. Und am besten gleich mal ‘ne Detox-Kur einlegen.
Clean Eating als Feindbild
Es lässt sich nicht verhehlen – Clean Eating ist mein neues Feindbild. Dabei finde ich viele Ansätze davon gar nicht schlecht. Und das meiste, was Clean Eating propagiert, ist ja auch ein alter Hut: Die Lebensmittel sollen möglichst wenig verarbeitet sein, bio und saisonal. Es soll viel Gemüse und Obst auf den Tisch kommen, kein weißer Zucker, Vollkorn statt Weißmehl. Das Übliche halt. In den 1980ern hat man das Vollwertkost genannt. Als Zeitzeugin kann ich mich noch gut an die Vollkornbreie zum Frühstück erinnern – selbst geschrotetes Getreide, über Nacht eingeweicht, das die Konsistenz von geraspelten Autoreifen hatte und auch bei ausführlichem Kauen einfach nicht weniger im Mund wurde.
Die nächste Sau im Ernährungsdorf
Neu ist allerdings, dass bei vielen Clean-Eating-Jüngern Weizen und Milchprodukte gleich mit auf der schwarzen Liste stehen. Schließlich kann man nicht noch einmal die gleiche Sau durchs Ernährungsdorf treiben. Und da aktuell gerade Gluten-Bashing angesagt ist, ist Weizen eben auch nicht clean genug. Aber wie kommt man dazu, ein Grundnahrungsmittel als nicht clean, also als schmutzig zu bezeichnen?
Gluten sind kein Gift
Als erfahrene Küchenpsychologin wage ich mal kess die Ferndiagnose, dass es auf eine Ess-Störung hindeutet, Essen in sauber und schmutzig einzuteilen. Sicher, es gibt eindeutig ungesunde Lebensmittel – wer ständig Fastfood und Süßes mit Softdrinks runterspült, tut seinem Körper erwiesenermaßen keinen Gefallen. Laut einer neuen Studie sind 20 Prozent der weltweiten Todesfälle auf ungesunde Essgewohnheiten zurückzuführen. Dagegen fehlt bislang der Beleg dafür, dass der unnötige Verzicht auf Gluten irgendwelche Vorteile bringt – wenn man von den Firmen absieht, die ihr Geld mit überteuerten glutenfreien Lebensmitteln verdienen. Ich rede nicht von Menschen, die eine Unverträglichkeit gegen Gluten haben. Sondern ich rede davon, Weizen per se als schlecht für alle abzustempeln. Als schmutzig halt.
Lecker statt sauber
Und diese – frei erfundene – Einteilung in sauber und schmutzig bringt mich zu einem weiteren Punkt, der mich umtreibt: Als Mutter einer Tochter ist es eh nicht einfach, dem Kind ein gutes und entspanntes Gefühl für Körper und Essen zu vermitteln. Wir ernähren uns gut, aber für mich ist das Hauptkriterium, mit dem ich meiner Tochter essen anbiete, „lecker“ und nicht „gesund“. Brokkoli ist lecker, Schokoladeneis natürlich auch. Aber letzteres essen wir nicht dauernd, weil das nicht so toll für die Zähne ist. Und das hat meine Kleine auch schon verstanden. Dass ich das ganz bewusst so halte, hängt mit einem Artikel zusammen, den ich vor einigen Jahren in der dänischen Tageszeitung „Politiken“ gelesen habe. Dort wurde berichtet, dass sich in den dänischen Kindergärten die Fälle von Kindern mit Essstörungen häufen. Grund dafür sind Eltern, die alles ganz besonders perfekt machen wollen, vor allem beim Essen. Da wird den Kindern von kleinauf die Einteilung von Nahrung in gesund und schädlich eingetrichtert, in Gut und Böse, in sauber und schmutzig. Dass den Kindern da irgendwann der Appetit vergeht, überrascht nicht. Und das möchte ich meinem Kind ersparen.
Essen als Selbstoptimierung
Ich will gar nicht bestreiten, dass zu viel Schindluder mit dem Essen getrieben wird. Aber Ernährung deshalb zum Religionsersatz hochzujazzen – Heilsversprechen und Verdammnis inklusive – verhunzt das Thema Essen nicht weniger und treibt zum Teil absurde Blüten. Vor einiger Zeit ging durch die Medien, dass die Betreiber einer veganen Restaurantkette in Kalifornien Morddrohungen (!) bekommen haben, nachdem bekannt geworden war, dass sie sich nach Jahrzehnten vegetarischen Lebens dazu entschlossen haben, die Tiere aufzuessen, die auf ihrer Ranch leben. Man möchte der empörten Meute zuzurufen: „Es ist doch nur Essen!“. Aber das ist wahrscheinlich ebenso sinnvoll, wie Fußballfans nach einer Niederlage mit einem „Es ist doch nur ein Spiel“ aufmuntern zu wollen.
Ein voller Teller als Glaubensbekenntnis
Dabei will ich einfach nur gut essen. Ich muss nicht mit jedem Teller ein Glaubensbekenntnis ablegen. Unsere Gesellschaft hat lange, lange gestrampelt, um sich halbwegs das moralische bewerten von unterschiedlichen Lebensentwürfen abzugewöhnen. Es ist mir schleierhaft, warum einige jetzt erpicht darauf sind, das ausgerechnet an einem solch schönen Ort wie dem Esstisch wieder einzuführen. Mir reicht es, wenn meine Cuisine meinen persönlichen Ansprüchen von guter Ernährung genügt und mein Kind nicht nur Würstchen und Pfannkuchen lecker findet, sondern auch Blumenkohl und Linseneintopf.
Guten Appetit.