Mudda vs. Ego
Ich bin allein. Mann und Kind sind eine knappe Woche zusammen weg und besuchen den Opa im Süden. Und ich? Ich kann tun und lassen, was ich will. Hurra! Aber was will ich eigentlich?
Alles nachholen
Ungestört kreativ sein, natürlich! Den großen vaterländischen Roman schreiben! Zeichnen! Illustrieren! Yoga machen! Meine Pandemie-Wampe verkleinern! Low Carb essen! Den SEO-Online-Kurs beenden! Meine alte Website auf Vordermann bringen!
Voller Stundenplan
Meine beiden Lieben sind noch nicht aus dem Haus, da entwerfe ich schon einen pickepacke vollen Stundenplan. Ich bin fest entschlossen, meine Zeit ohne Familie so effektiv wie irgend möglich zu nutzen. Ich hatte in den vergangen Monaten wenig Zeit, kreativ zu sein, weil andere Dinge anstanden. Im Lockdown die Wochenarbeitsplan-Ausdruck-Abarbeitungs-Beaufsichtigung. Auf Behördendeutsch: Schulisch angeleitetes Lernen zu Hause, in Rundschreiben der Schule gerne als SaLzH abgekürzt. Vielen besser bekannt als Homeschooling. Und den Rest der Zeit lag deutlich mehr Kinderbetreuung an durch geteilten Unterricht und geschlossenen Hort als in meiner Lebensplanung vorgesehen war.
Böse Fremdbetreuung
Ich höre jetzt schon, wie die “Wie kannst du dich darüber beschweren? Man bekommt doch keine Kinder, um sie wegzugeben!!!!”-Fraktion Schnappatmung bekommt. Dass Kinder “fremdbetreut” werden, habe ich bislang übrigens nur als Vorwurf unter Müttern gehört. Ich kann mich nicht entsinnen, dass Vätern vorgeworfen wird, ihre beruflichen oder persönlichen Ziele zu verfolgen, derweil sich jemand anderes um den Nachwuchs kümmert. Schon gar nicht unter Vätern. Aber das ist ein anderes Thema.
Ego adé
Gleichzeitig habe ich eben auch nicht ein Kind bekommen, um mich selbst wegzugeben. Zu einem gewissen Grad passiert das natürlich unvermeidlich, wenn ich Mutter werde. Schon in der Schwangerschaft merke ich schnell, dass ich nicht mehr alleine über meinen Körper und meinen Alltag bestimme. Egal ob mir von innen der Mageninhalt Richtung Rachen gedrückt wird oder fremde Hände von außen meinen Babybauch tätscheln wollen. Meine Zeiten als selbstbestimmtes Individuum sind perdü.
Das Kind zuerst
Doch ich bleibe immer noch ich. Mit meinen Leidenschaften, Bedürfnissen und Talenten jenseits von Lego-Steine sortieren oder Spielplatz-Leben. Mein Ego ist in den letzten Jahren seltener zum Zuge gekommen, weil ich tatsächlich dieses Mudda-Ding entwickelt habe: Das Kind kommt zuerst. Den letzten Bissen überlasse ich in der Regel dem Nachwuchs. Aber selbst wenn sich mein Ego die vergangenen Jahre bereitwillig hinten angestellt hat, ist es ja nicht komplett in verschwunden.
Party on, Ego
Für mich ist das Schreiben ein ganz wichtiger Teil meiner Persönlichkeit. Viele Jahre habe ich damit sogar meinen Lebensunterhalt bestritten. In den vergangenen Monaten der Pandemie habe ich viel Häppchenweise arbeiten müssen. Das fällt mir schwer und geht gegen meine Natur, die sich gerne tiefer in Themen und Texte vergräbt. In der Woche ohne Familie, in der ich wie ein Single leben kann, soll genau das wieder möglich sein. Party on, Ego! Aber schaffe ich es überhaupt, von jetzt auf gleich den Schalter umzuwerfen?
Ratlos in die Freiheit
Am ersten Tag ohne meine Familie muss ich an die Tierfilme denken, die ich als Kind gerne gesehen habe.”Im Reich der wilden Tiere” und alles von Bernhard Grzimek und Heinz Sielmann. Da wurde öfter gezeigt, wie Tiere ausgewildert wurden. Wie die große Transportkiste mit dem Nashorn in der Serengeti aufgeklappt wurde und alle Helfer schnell das Weite suchten. Aber das Nashorn blieb unschlüssig und unsicher stehen. Nur langsam und misstrauisch schnüffelnd kam es aus seiner Transportbox heraus. Statt umgehend loszugaloppieren, beglotzte es ratlos die große weite Wildnis, die sich vor ihm ausbreitete. So ungefähr habe ich mich am ersten Tag ohne Familie gefühlt.
Wer bin ich?
Habe ich etwa verlernt ich selbst zu sein? Ist mein Ego aus der Übung? Hat der Mental Load doch so tiefe Spuren hinterlassen. Trotz fair aufgeteilter Sorgearbeit. Trotz täglicher Me-Time. Trotz Freundinnen-Wochenenden ohne Familie. Wer bin ich eigentlich, wenn die Mudda in mir nicht mehr wie gewohnt im Standby glimmt?
Verdaddelte Zeit
Um das herauszufinden braucht es Zeit. Zeit, die nichts Vorzeigbares hervorbringt. Zeit, die sich für mich unproduktiv verdaddelt anfühlt. Zeit, in der keine Wäsche aufgehängt wird. Zeit, in der nicht einmal Brot gebacken und für Instagram fotografiert wird. Zeit, für die es keinen Beweis gibt, dass sie überhaupt existiert hat.
Weckerfrei
Also ist meine erste und wahrscheinlich beste Maßnahme für meine Woche allein: Ich gebe mir den Vormittag frei. Nix mit Wecker stellen und nach einer Runde Yoga pünktlich um neun Uhr am Schreibtisch sitzen. Ich kenne mich gut genug, um zu wissen: Das kann nur nur in die Hose gehen. Und jeden Arbeitstag irgendwann am späten Vormittag mit dem bitteren Gefühl des Scheiterns zu beginnen, ist Gift für die Kreativität.
Ausgeschlafen
Ich schalte den Wecker ganz aus und merke schnell: Wenn ich nicht durch familiäre Unruhe am Morgen geweckt werde, kann ich wie in alten Zeiten wieder bis zehn durchschlafen. Herrlich! Ich habe nach ein Paar Tagen langem Schlaf das Gefühl, ich bin in einen Jungbrunnen gefallen.
Selbstliebe
Ausgeschlafen sein ist eine feine Sache. Aber es braucht noch mehr, damit mein Ego wieder zu Kräften kommt: Selbstliebe. Auch wenn mein Tagwerk nicht mehr als ein paar neue Absätze in diesem Blogbeitrag umfasst, darf ich mich loben. Immerhin bin ich aufgestanden, habe mich geduscht und mich vor zwölf an den Schreibtisch gesetzt. Das ist früher als in meinem Plan vorgesehen. Jawoll!
Seelenfutter
Kurzzeitig überlege ich, aus Zeitersparnis-Gründen meine Junggesellinnen-Cuisine aufleben zu lassen (Pasta mit Büchsenfisch, Pasta mit Kräuterquark, Pasta mit geriebenem Käse, Pasta mit gewürfeltem Schinken …). Ich entscheide mich anders und brate mir abends Tofu mit Wirsing und Kichererbsen. Auch gutes Essen ist Selbstliebe. Ich esse zwar nicht konsequent Low Carb, aber immerhin überspringe ich hier und da eine Mahlzeit und vielleicht wird die Covid-Kurve in meiner Körpermitte ja etwas flacher ohne täglichen Familientisch.
Das Nest-Problem
Eine Sache, die mich gerne davon abhält, mich in solchen freien Wochen meinen eigenen Projekten zu widmen, ist dieser Impuls, Dinge in der Wohnung zu reparieren, wenn ich ungestört bin. Ich bekenne: Ich habe ein Nest-Ding. Oder ein Nest-Problem? Oder eine Mudda-Mutation? Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, zwei (eigentlich schon fertig lackierten) Holzstühle anzuschleifen und zu überarbeiten. Und die kaputte Scheibe über der Kammertür ärgert mich auch schon länger. Aber das kann und muss warten — auf die Familie. Schließlich wird es auch für die Familie gemacht. Mein Kind kann mir sehr gut beim Dinge reparieren helfen. Dann verplempere ich keinen kostbaren Ego-Freiraum. Und das Kind lernt etwas fürs Leben. Win-win.
Mudda-Standby
Zwischendurch quatsche ich via Video mit einem hoch vergnügten Kind, das mir begeistert von seinem Erlebten berichtet. Ich sehe das fröhliche Gesicht und ungekämmte Haare. “Hat dein Papa dich heute schon gebürstet?”, frage ich und ärgere mich im gleichen Moment. Ping! War die Mudda doch noch im Standby und ist prompt angesprungen. Aber nicht streng werden: Auch die Mudda in mir löst sich nicht in Luft auf. Als das Kind an einem anderen Tag berichtet, dass es mit dem Vater in der Isar planschen geht, ist die Mudda umgehend im Katastrophen-Modus und gibt eine lange Liste guter Ratschläge mit. Das ist das Gegenteil von dem, was ich mir vorgenommen habe. Aber ich verzeihe mir: Ich bin was ich bin.
Platz für mich
Doch jetzt fort von der im Kopf schon Wasserrettungs-Maßnahmen koordinierenden Mudda. Zurück zu mir. Zu meinem kreativen Ego. Das räumt den Zeichentisch frei, der über die letzten Wochen zugerümpelt worden ist und gleichzeitig als Basteltisch fürs Kind gedient hat. Da ist viel zu tun, vielleicht bin ich so lange mit sortieren und Staub wischen beschäftigt, dass Mann und Kind wieder da sind, bevor ich richtig loslegen kann. Aber auch das ist okay.
Gutes Gewissen
Die Woche vergeht, der Blogtext wächst, andere Projekte haben keine Energie abbekommen. So ist das Leben. Ich merke, wie gut mir die Woche Urlaub von der Mudda tut. Ungestörte Zeit mit meinem Ego zu haben. Mein Ding durchzuziehen ohne schlechtes Gewissen dabei.
Fein raus
Ich kann mir vorstellen, wie Alleinerziehende an dieser Stelle nicht mal mehr müde lachen können. Ja, ich bin fein raus. Ich habe einen Partner, der mit dem Kind wegfährt. Der alleinerziehender Vater von zwei Kindern war, als wir uns kennengelernt haben. Der mehr Erfahrung mit Kindererziehung hat als ich. Der meine mütterlichen Einmischungsversuche robust an sich abprallen lässt. Der in dieser Woche nicht zwischendrin anruft und Hilfe von der Mudda anfordert. Und vor allem: Der mir nicht mein Kind abnimmt, sondern der mit seinem Kind in die Ferien fährt. Das ist ein kleiner, aber mehr als feiner Unterschied. Ich kann mich entspannen und mein Ego pflegen, wenn ich es denn zulasse und nicht selbst verhindere.
Knapper Freiraum
Kann ich etwas von dem wieder entdeckten Freiraum der vergangen Woche in den Alltag hinüberretten? Wohl kaum. So wie unser Leben mit Schule, Erwerbs- und Sorgearbeit durchgetaktet ist, muss sich das Ego wieder hintenan stellen. So etwas nennt man Familie. Mein Mann und ich verschaffen uns zwar regelmäßig Freiräume. Aber nach meinem eigenen Rhythmus kreativ zu sein, ist im Alltag nicht drin.
Pieper aus
Wo ich dagegen Raum für Veränderung habe, bin ich selbst. Ich kann an meinem Mudda-Standby arbeiten. Wirklich nicht im Dienst sein, wenn die Mudda frei hat. Nicht gleich anspringen, wenn etwas nicht exakt so ist, wie ich es erwarte. Den inneren Pieper abschalten. Laufen lassen. Ungekämmte Haare hinnehmen.
Die Mutter in mir
Vor vielen Jahren war ich — noch kinderlos — bei einem Psychotherapeuten. Oft ging es in den Sitzungen auch um meine Mutter. Irgendwann rief der Therapeut: “Jetzt lassen Sie doch mal ihre Mutter in Ruhe! Kümmern Sie sich um die Mutter in Ihnen drin. Die können Sie ändern!”.
Und genau das sollte ich mehr versuchen.
Stay tuned.