Bye, bye Berlin?
Als ich im Sommer 1992 nach Berlin gezogen bin, fand ich die Kreuzberger immer etwas anstrengend, die seit den 80ern hier lebten und auf WG-Partys über den Mauerfall jammerten und klagten, ohne Mauer sei Berlin nicht mehr das was es früher einmal war.
Ich bin ein Jammer-Wessi
Jetzt wohne ich selbst seit über 25 Jahren in Berlin, inzwischen mehr als die Hälfte meines Lebens, und bin inzwischen auch zu so einem Jammer-Wessi verkommen, der sein ganz eigenes Klagelied anstimmt. Denn seit einiger Zeit fühle ich eine kleine dunkle Wolke, die über meinem Kopf und der Stadt hängt und langsam größter wird. Ein bisschen fühlt es sich an wie enttäuschte Liebe. Was ist passiert?
Selig nach ihrer Façon
Es wird immer deutlicher spürbar, dass Berlin dabei ist, etwas Wichtiges zu verlieren. Berlin war einmal ein Zufluchtsort. Eine aufregende, spannende und wilde Stadt, die aber gleichzeitig unzählige Rückzugsmöglichkeiten für all die Mühseligen und Beladenen aus dem Rest der Republik bot. Fern von der Enge der Heimat und mit überschaubarem Budget konnten hier tatsächlich alle nach ihrer Façon selig werden. „Stadtluft macht frei“ traf für Berlin mehr zu als für viele andere Städte. Doch dieses Gefühl verschwindet.
Berlin verliert seine Nischen
Dabei geht es mir nicht allein darum, dass Berlin teuer und öde wird. Klar wird über die steigenden Mieten und die zugezogenen Spießer lamentiert, weil beides greifbar ist und uns tagtäglich begegnet. Aber es geht um etwas Größeres. Berlin verliert in schockierend schnellem Tempo seine Nischen. Die Biotope, in denen bislang Kreativität und Lebenslust gedeihen konnten, verschwinden – werden aufgekauft, saniert und meistbietend versteigert.
Eine Ansammlung von Dörfern
Aber genau an diesen Nischen hängt diese spezielle Mischung aus wild und kuschelig, die Berlin so anziehend gemacht hat. Vor allem für Menschen aus der Provinz, so wie mich. Wir Provinzler wollten endlich mal was erleben, aber trotzdem irgendwie im Dorf bleiben. Und dafür war Berlin wie gemacht. Die Berliner hören es nicht gerne, aber Berlin ist, wenn wir es mal ehrlich betrachten, eine Ansammlung von Dörfern vor den Toren Spandaus. Deshalb fällt der Kulturschock in Berlin für uns Provinzler deutlich kleiner aus als in anderen Großstädten.
Ich bin damals aus meinem Dorf in Angeln in Schleswig-Holstein weg, um mich dann Jahre später in dem Dorf Moabit niederzulassen. Deutlich bunter und schäbiger als die alte Heimat, aber doch so überschaubar, dass ich täglich bekannten Gesichtern auf der Straße zunicke und mich schwer zusammen nehmen muss, die türkische Kioskbetreiberin im Nebenhaus nicht mit „Moin“ zu grüßen (was ich mir schon deshalb verkneife, weil dann die anderen Berliner mit „Guten Morgen“ zurückgrüßen und denken, ich bin gerade aus dem Bett gefallen. Aber das ist eine andere Geschichte).
Ich trauere den alten Zeiten nach
Überhaupt Moabit. Mir ist bewusst, dass es sich normal Sterbliche in keiner anderen europäischen Hauptstadt leisten können, so zentral zu wohnen. Oder ich sollte lieber sagen: Es sich leisten konnten? Denn die Mieten in Moabit gehen in den letzten zehn Jahren durch die Decke. Das ist seit der Wende erwartet worden und keine echte Überraschung. Trotzdem trauere ich den alten Zeiten nach und ertappe mich manchmal dabei, dass ich durch meinen Kiez spaziere und still im Kopf durchrechne, wie viele Mieterhöhungen es braucht, bis wir wegziehen müssen. Und ob die Zeit noch reicht, dass meine Tochter hier wenigstens die Grundschule beenden kann. Oder sollte man jetzt schon gehen, bevor die Bezirke am Stadtrand auch teuer und überrannt sind? In meinem Umfeld ziehen die ersten aus Berlin weg, andere sitzen quasi auf gepackten Koffern und warten darauf, dass die Kinder mit der Schule fertig sind und sie wegziehen können.
Und was werde ich tun? Wir Dörfler verlassen nur ungern unsere angestammte Scholle. Und als Trendsetter sind wir auch nicht bekannt. Zumal ich unter keinen Umständen zurück aufs Land möchte. Womöglich in eine fremde, große Stadt ziehen? Ohauaha. Also bleiben. Die letzten Ausläufer vom alten Berlin genießen, ein bisschen jammern und darauf hoffen, dass es später für eine Wohnung in Biesdorf reicht.
Stay tuned.