Pest oder Cholera
Nach bummelig einem Jahr Pandemie im Land liegen bei uns allen die Nerven blank. Und nirgendwo merkt man die flatternden Nerven heftiger als bei der Frage “Schulen auf oder zu?”.
Ich nehme sogar Viertelunterricht
Auch bei mir als Mutter einer Zweitklässlerin sorgen die langen Schulschließungen für Stress und Erschöpfung. Wie kann es sein, dass es nach so langer Zeit immer noch kein verlässliches Konzept gibt, wie die Kinder sicher beschult werden können? Ich wäre ja schon mit halbem Unterricht in geteilten Gruppen zufrieden. Oder meinethalben auch mit Viertelunterricht. Ich nehme alles.
Nagende Zweifel
Gleichzeitig gärt in mir ein wachsendes Unbehagen, seit sich immer mehr Mutationen ausbreiten. Bei aller Sehnsucht nach Normalität nagen an mir Zweifel, ob es tatsächlich eine gute Idee ist, die Schulen — selbst mit eingeschränktem Betrieb — wieder zu öffnen, solange noch Unsicherheit herrscht, wie munter das mutierte Virus trotz der alten Hygienevorkehrungen die Runde macht.
Mutationen? Nein Danke!
Denn eines ist mir klar, und auch vielen der anderen 83 Millionen Virolog*innen im Land: Je mehr Orgien ein Virus feiern und sich vermehren kann, umso mehr Gelegenheit bekommt es, weiter zu mutieren. Und man muss nicht Christian Drosten heißen, um zu wissen, dass genau das möglichst nicht passieren sollte.
Zwei Seelen in meiner Brust
Während ich also jeden Tag mit mir ringe, die neuesten Infektionszahlen studiere und dabei den zwei Seelen lausche, die ach in meiner Brust wohnen, sind sich andere Eltern ihrer Sache deutlich sicherer. Ich habe in meiner Social-Media-Blase sowohl Pro-Präsenz-Verfechter als auch die Anti-Präsenz-Fetisch-Fraktion und bin immer wieder unangenehm berührt, mit welcher Vehemenz die jeweils eigene Position als einzig richtige hinausposaunt wird.
Düstere Aussichten
Das eine Lager ist fest davon überzeugt, dass wir unsere Kinder quasi umbringen oder zumindest die Oma, wenn wir die Kinder wieder in die Schule schicken. Das andere Lager verweist auf die steigenden Zahlen von Depressionen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern im Lockdown und malt dem Nachwuchs eine düstere Zukunft mit Bildungslücken und psychischen Problemen aus.
Danke Merkel
Der Streit um die Deutungshoheit wird bei Twitter wahlweise mit den Hashtags #merkelschuetztkinder oder #merkelquaeltkinder garniert. Vereinzelt findet sich sogar #merkeltoetetkinder. Fehlt eigentlich nur noch #merkelfruehstuecktkinder. Das schon hinlänglich etablierte #dankemerkel — mal ironisch, mal ehrlich — beanspruchen beide Seiten für sich. Und die Wahrheit sowieso. Dabei wissen wir doch alle, dass es Risiken birgt, die Schulen zu öffnen und ebenso, sie geschlossen zu halten. Eine klassische Wahl zwischen Pest und Cholera.
Tod und Schuld
Was mir in der Debatte die größte Sorge bereitet, ist der dramatische Tonfall, in dem beide Seiten immer wieder das Seelenheil der Kinder ins Feld führen und gleichzeitig ein Schreckensszenario von Tod und Schuld entwerfen, bei dem jedem Kind Angst und Bange werden muss.
Die Haltung der Eltern entscheidet
Man mag mir das als mütterlichen Größenwahn auslegen — aber die psychische Gesundheit meines Kindes steht in direktem Zusammenhang mit der psychischen Verfassung von mir und meinem Mann und dem, was wir Eltern am Essenstisch zum Besten geben.
Wir machen das Beste daraus
Wenn mein Kind weint und klagt, dass es seine Freunde, die Schule und den Hort vermisst, macht es einen Unterschied, ob ich es in den Arm nehme und sage: Ja, das ist gemein und traurig. Aber das geht vorbei und wir machen bis dahin das Beste draus. Wenn du magst, darfst du heute bei mir im Bett schlafen. Oder ob ich sage: Das muss sein, weil du sonst das Virus aus der Schule mitbringst und dann die Oma stirbt. Oder: Leider will Frau Merkel das so, weil sie kinderlos ist und ein kaltes Herz hat und es ihr egal ist, wenn du später die verlorene Generation genannt wirst.
Keine Chance auf Entkommen
Wie heil unsere Kinder durch die Pandemie kommen, hängt massiv davon ab, welche Atmosphäre wir Eltern zu Hause schaffen — ob Furcht, Wut oder Hoffnung überwiegen. Besonders, da wir in den Familien ohne Pause aufeinander hocken und es keine Chance auf Entkommen gibt.
Keine Angst, mein Kind
Das heißt weder, dass es keinen Stress geben darf — wir haben hier reichlich Tiefpunkte mit Tränen und Türen schlagen. Noch dass man die Lage beschönigen muss und sein Kind in Wolkenkuckucksheim großzieht. Meine Tochter weiß, dass ich erschöpft und gefrustet bin und dass Corona gerade überall auf der Welt den Menschen das Leben schwer macht. Sie weiß, dass Menschen an Corona sterben. Aber meine Tochter weiß auch, dass Corona für Kinder in ihrem Alter nicht gefährlich ist. Nach aktuellem Stand auch in der mutierten Variante nicht (siehe hier).
Zuversicht für alle
Mein — wirklich ernst gemeintes — Mantra “Du weißt, dass ich mir um vieles Sorgen mache, aber nicht darum, dass Corona für dich gefährlich sein könnte” ist bei meiner Tochter tatsächlich angekommen. Es belastet sie natürlich, dass sie sich viele schöne Dinge verkneifen muss, damit der Spuk hier irgendwann vorbei ist. Aber sie hat keine Angst. Und vor allem hat sie mein Versprechen, dass wir irgendwann auch wieder alle außerhalb der Familie knuddeln dürfen, verreisen werden und Geburtstage feiern. So erschöpft ich momentan bin, werde ich nicht müde, das immer wieder zu betonen. Mein Kind braucht immer wieder diese Portion Zuversicht. Und ich ehrlich gesagt auch.
Alles wird gut.