In geheimer Mission
Ich hasse es zu lügen. Die meisten meiner Freundinnen und Freunde mögen mich für meine Ehrlichkeit, die oft genug die Grenze zur Schonungslosigkeit touchiert. Anderen ist diese Eigenschaft von mir so unbehaglich, dass sie mich nur dann nach meiner Meinung fragen, wenn sie tatsächlich eine komplett ehrliche Antwort ertragen können.
Lügengeschichten zur Weihnachtszeit
Entsprechend habe ich die vergangenen Jahre in der Weihnachtszeit schwer gelitten. Was wir unserer Tochter für Lügengeschichten aufgetischt haben über Nikoläuse und von Zauberhand gefüllten Adventskalendern. Und von diesem Typen Weihnachtsmann, der schnell wie der Blitz Geschenke deponiert und sich dann — wusch – ohne ein Geräusch zu machen wieder wegschleicht.
Angestaubter patriarchalischer Mief
Ich weiß, das gehört alles zum Weihnachtszauber mit leuchtenden Kinderaugen, gerührten Großeltern und überzogenen Erwartungen. Aber wie kann ich meine Tochter zu Aufrichtigkeit erziehen und gleichzeitig alle Jahre wieder so einen Quatsch verzapfen? In dem auch noch angestaubter patriarchalischer Mief von alten Männern mit Bart und Kirchenoberhäuptern hängt?
Keine Weihnachtserpressung
Immerhin habe ich mir verkniffen, die Aussicht auf Geschenke für die unverhohlene Drohung zu instrumentalisieren: „Wenn du nicht brav bist, bringt der Weihnachtsmann, der Nikolaus und sonst wer keine Geschenke“. In meiner Kindheit wurde uns Kindern ja tatsächlich noch mit der Rute gedroht, die je nach familiärer Tradition Nikolaus, Knecht Ruprecht oder der Weihnachtsmann persönlich geschwungen haben. Ich kenne genug Leute meines Alters, die als Kind beim Anblick von als Nikolaus verkleideten Männern verlässlich in Tränen ausgebrochen sind.
Transparenz statt Ehrlichkeit
Mein Kind hat Weihnachts-Erpressung nicht erlebt. Zumindest nicht von mir. Sie kam aus der Kita mit dem Konzept nach Hause, dass brave Kinder beim Weihnachtsmann besser dastehen. Aber den Zahn habe ich ihr gezogen: „Weißt du, die Erwachsenen wissen, dass sich die Kinder ganz doll Geschenke wünschen und dann versuchen sie den Kindern mit dem Weihnachtsmann Angst zu machen, damit sie sich benehmen“. Wenn ich schon nicht ehrlich sein kann, bin ich wenigstens für Transparenz.
Konflikt bringt Nähe
Als ein Erzieher in der Kita behauptete, er habe die Telefonnummer vom Nikolaus und könnte über schlechtes Benehmen der Kinder berichten, habe ich mir schwer die Zunge beißen müssen. Ich wollte den Mann meiner Tochter gegenüber nicht bloßstellen. Aber es ist mir sehr, sehr schwer gefallen. Dafür habe ich mir den betreffenden Erzieher direkt zur Brust genommen. Er solle bitte bei Disziplinproblemen nicht den Nikolaus vorschieben, sondern das selbst durchkämpfen. Sonst verlieren die Kinder sämtlichen Respekt.
Ich verstehe grundsätzlich nicht, warum Erwachsene die Verantwortung für unschöne Erziehungsmaßnahmen auf solche Fantasiefiguren abwälzen. Und so tun, als wären sie die netten Kumpel, während dieser Weihnachtsmann echt mal ein harter Hund ist, der dem Kind die Geschenke streicht, wenn es nicht seinen Brokkoli aufisst. Leute, traut Euch! Riskiert die Auseinandersetzung. Konflikt bringt Nähe. Aber das ist jetzt schon wieder ein anderes Thema.
Endlich die Erlösung
Rund um die Einschulung kamen immer häufiger Fragen wie „Woher bekommt der Weihnachtsmann die ganzen Geschenke?“ oder „Wie kann der Weihnachtsmann an einem Abend bei allen Kindern auf der Welt sein?“, die ich ausweichend und wortkarg mit „Weiß nicht“ und „Keine Ahnung“ beantwortet habe.
Und dann die Erlösung im vergangenen Jahr, allerdings erst nach Weihnachten. Meine Tochter ist smart genug, sich nicht selbst das Fest zu versauen. Sie hat mich direkt gefragt, ob es den Weihnachtsmann wirklich gibt. Und das kenne ich ja aus meiner Bubble: Wer so eindeutig fragt, will eine ehrliche Antwort. Auch wenn es weht tut. „Nein, der Weihnachtsmann ist ausgedacht. … Nein, den Nikolaus gibt es auch nicht. … Ob der Osterhase echt ist? Was glaubst du?“ Interessanterweise hat es meiner Tochter fast am meisten zugesetzt, dass auch die Zahnfee nichts als Hokuspokus ist.
Statt Zauber ein wissendes Grinsen
Ja, der Weihnachtszauber hat eine kleine Delle bekommen. Aber nur ein kleine. Meine Tochter sprintet auch in diesem Jahr jeden Morgen zum Adventskalender und berichtet mir dann aufgeregt, was hinterm Türchen war – obwohl sie weiß, dass ich den Kalender gefüllt habe und nicht die Weihnachtselfen. Und sie nutzt ihr neues Wissen, indem sie versucht, mich auszufragen à la „Glaubst du, dass noch mehr Oreos im Kalender sind?“ Was ich gerne mit „Da muss ich mal die Weihnachtselfen fragen“ beantworte – und ein wissendes Grinsen ernte.
Endlich kann ich die Lorbeeren ernten
Meine Tochter ist zufrieden, dass sie sich jetzt zu den Eingeweihten zählen kann und zusammen mit uns für die kleinen Kinder in der Familie, die noch an den Weihnachtsmann glauben, die Show weiter spielt. Und ich habe mit der neuen Ehrlichkeit nicht nur einen Teil meiner Integrität zurück. Sondern ich kann endlich auch die Lorbeeren für den ganzen Budenzauber ernten und muss den Ruhm nicht an Weihnachtsmann & Co abtreten. Das nennt man wohl Win-win.
Frohes Fest.