Oberkante Unterlippe
Kleine Warnung vorweg: In diesem Text werden ein paar Kraftausdrücke auftauchen. Meine Contenance ist in Auflösung. Ich kann nicht mehr. Die Regierung hat als Teil des verschärften Lockdowns beschlossen, dass die Schulen bis Ende des Monats geschlossen bleiben. Nach fast einem Jahr Pandemie im Land ist DAS die Ultima Ratio für unsere Kinder. Wieder keine Schule, weil Lüften nicht geholfen hat und es sonst keine Konzepte für einen sicheren Präsenzunterricht gibt. Nüscht. Klappe zu, Affe tot.
Von Lagerkoller zu Lagerkoller
Bislang habe ich den Frust der Pandemie ganz passabel veratmet. Habe mir immer wieder meine komfortable Lage vor Augen gehalten und mich, wenn ich zu ausdauernd gejault habe, selbst streng an der Schulter geschüttelt und mich ermahnt, gefälligst die Zähne zusammenzubeißen. Damit habe ich mich die vergangenen Monate von Lagerkoller zu Lagerkoller gehangelt. Mal besser, wenn meine Tochter und ich das 1000-Teile-Puzzle fertig bekommen haben. Mal schlechter, als es mein Job nicht durch die Krise geschafft hat.
Kontrolle wurde aus der Hand gegeben
Aber jetzt steht es mir Oberkante Unterlippe. Dabei bin ich Team Lauterbach. Mir ist klar, dass man in einer Pandemie, über die man die Kontrolle verloren hat, die Schulen nicht einfach geöffnet lassen kann. Unabhängig davon, wie die Gefahr für die Kinder selbst eingeschätzt wird, sind hier einfach mehr Kontakte möglich, als die Gesundheitsämter aktuell im Blick haben können. Das ist bittere Realität, das kann ich einsehen. Ich bin so sehr Realistin, dass ich fast erleichtert bin, dass die Berliner Schulen für die Grundschüler doch nicht so früh wie geplant wieder geöffnet werden.
Wut und Frust
Was mir aktuell die Brust zuschnürt, ist die Wut, die sich unter meinen gut abgehangenen Frust mischt. Die Wut darüber, wie in den letzten Wochen und Monaten die Kontrolle geradezu vorsätzlich aus der Hand gegeben wurde. Wo erst alle gekniffen haben, unpopuläre Entscheidungen zu treffen (bevor die Leichenhäuser voll waren) und dann die fixe Idee aufkam, dass man den Menschen bloß nicht ihr schönes Weihnachtsfest verderben darf.
Opfer für die Festtagskulisse
Ich kann vor Ärger nicht einschlafen, weil in mir das Gefühl nagt, dass die Kinder für diese emotional überladene Konsumterrorkulisse unterm Weihnachtsbaum geopfert wurden. Dass die Schulen jetzt schließen, weil die Kirchen ja aufbleiben mussten. Dass mein Kind kaum noch Sozialkontakte haben darf, weil die Erwachsenen über die Feiertage ohne Not mit der Verwandtschaft überm Keksteller die Köpfe zusammen stecken mussten.
Billiger Applaus zum Fest
Die Deutsche Weihnacht ist heilig. Heiliger als Chancengleichheit. Heiliger als Fürsorge für diejenigen, die für den ganzen Scheiß gerade echt nichts können. Eine strenge Beschränkung der Erwachsenen schon ab November und über die Feiertage hätte den Kindern jetzt viel erspart. Aber die Menschen, die in diesem Land die Entscheidungen treffen, haben das dicke Ende für die Kinder in Kauf genommen für den billigen Applaus zum Fest. Und damit meine ich sowohl die Menschen in der Politik als auch die Erwachsenen, die nicht die Traute hatten, der Verwandtschaft abzusagen.
Alles für die Katz
Ich habe mir in den letzten Monaten meine Sozialkontakte verkniffen und bin nach Treffen im Park durchgefroren nach Hause gekommen. Ich kann die Menschen an einer Hand abzählen, die ich seit März in den Arm genommen habe außer Mann, Kind und Enkeln. Ich habe auf meinen Heimatbesuch zu Weihnachten verzichtet. Alles für die Katz.
Ärger in der Komfortzone
Während ich mich in Rage schreibe, spüre ich wieder die Hand auf meiner Schulter, die mich daran erinnert, dass ich mir die beschissene Situation im Land aus einer molligen Komfortzone heraus angucke. Und die mich auffordert, meinen privilegierten Ärger an die kurze Leine zu nehmen. Aber ich kann einfach nicht mehr.
Nikolaus prügelt die Maskenmuffel
Ich träume sehr selten. Aber nach den neuesten Regierungsbeschlüssen habe ich geträumt, dass ich mit einer Peitsche über einen Weihnachtsmarkt gehe und Menschen ohne Maske schlage. Die Peitsche im Traum ist ziemlich weich und ich alte Harmonietrulla schlage viel zu schwach zu. Immerhin ist anfangs noch der Nikolaus höchstpersönlich an meiner Seite und prügelt mit seiner Rute kräftig mit. Soweit zu meiner aktuellen Gemütslage.
Scheiß auf Gelassenheit
Für meine Wut gibt es keine Erleichterung. Keinen Trost. Keine Lösung. Auch die Einsicht in die Notwendigkeit der Maßnahmen hilft nicht. Alles Scheiße. Scheiße mit Ansage. Vermeidbare Scheiße — vor zwei Monaten. Es gibt doch dieses Gelassenheitsgebet, in dem es auch darum geht, Dinge hinzunehmen, die nicht geändert werden können. Doch so sehr ich es versuche, ich schaffe es nicht.
Gefühle lassen sich nicht verrechnen
Aber womöglich ist das auch gar nicht notwendig. Wer sagt, dass ich ausgerechnet in einer weltweiten Pandemie damit anfangen soll, gelassen zu sein? Und wer sagt, dass sich Wut und Frust in der persönlichen Lebensbuchhaltung sauber mit Privileg und Komfort verrechnen lassen?
Ich habe viel Glück
Trotzdem weiß ich natürlich, dass ich viel Glück habe. Ich habe meine Familie. Mein Zuhause. Mein Kind, dessen Enthusiasmus über die schönen Dinge des Lebens keine Grenzen kennt. Meinen Freundeskreis, der zwar auf Sparflamme läuft, aber immer noch verlässlich da ist. In meiner Familie sind bislang alle gesund geblieben. Die nahen Menschen, die Covid hatten, haben überlebt. Ich gehe morgens eine Runde an der Spree spazieren. Ich habe Freiräume zum Energie tanken.
Unlösbares Elend
Und hier liegt für mich die Chance. Ich kann das Elend da draußen nicht klein diskutieren oder geschweige denn lösen. Aber ich kann mir Pausen verschaffen. Bei meiner morgendlichen Spreerunde komme ich unter einer Brücke an einem Schlafplatz von Obdachlosen vorbei. Auch das macht meine Wut über die Verhältnisse nicht kleiner. Aber es erinnert mich daran, dass ich immerhin ein Nest haben, in dem ich in der Krise überstehen kann.
Dankbarkeit als Auszeit
Ich kann Waffeln backen, mit meinem Kind zusammen jede einzelne Schneeflocke feiern und einen Bogen um Twitter und den geballten Frust dort machen. Ich kann neben der Wut ausreichend Platz schaffen für Dankbarkeit. Mein Herz ist groß genug dafür. Nicht als Gegengewicht gegen die Wut. Sondern als meinen sicheren Hafen für Pausen von den anstrengenden Zeiten da draußen.
Stay tuned.