Digitale Waisen
Wenn wir in den kommenden Jahren Generationen von hibbeligen und unkonzentrierten Kindern bekommen, liegt das ohne Zweifel auch an ihren chronisch abgelenkten Eltern.
Im Netz gefangen
Als ich letztens einen Vormittag mit meinem Kind auf dem Spielplatz verbracht habe, gab es einen Moment, in dem — ungelogen — alle Eltern gleichzeitig aufs Telefon geglotzt haben. Wie ferngesteuert.
Mit der Technik allein
Ich musste an den Ausdruck digitale Waisen denken, den ich vor längerer Zeit im Zusammenhang mit Kindern und Mediennutzung gehört habe. Das meint zwar vor allem, dass Kinder mit der Technik allein gelassen werden. Aber ich finde es passt auch auf die Kinder, die wegen der Technik allein gelassen werden. Nicht körperlich, denn die Eltern sitzen ja keine drei Dinkelstangen weit entfernt. Sondern sozial, weil die Eltern nicht mit ihren Kindern im Austausch stehen. Sondern ständig auf das Display starren, statt ihr Kind anzuschauen. Dabei wissen wir doch alle, dass Blickkontakt in unserem zwischenmenschlichen Miteinander zentral ist.
Ausnahmsweise aufmerksam
Dass mir das gerade da so deutlich aufgefallen ist, mag daran liegen, dass ich an jenem Vormittag ohne Smartphone auf dem Spielplatz war. Ich hatte es beim aufbrechen nicht direkt gefunden und wollte dringend los. Ich konnte also weder Spiegel Online lesen noch Französisch-Lektionen durchklicken (Ich kann Duolingo sehr empfehlen).
Online auf dem Spielplatz
Denn auch ich gehöre zu den Smartphone-Eltern. Und habe ich nicht das Recht, schnell ein paar französische Zeitformen zu wiederholen, während mein Kind mit dem Roller eine Runde um den Bolzplatz dreht? Was hat mein Kind davon, wenn ich in der Zeit Löcher in die Luft gucke, statt kurz die neueste Nachrichtenlage zu checken?
Ertappt
Wenn mein Kind dann wieder zu meiner Bank kommt, stopfe ich das Telefon natürlich fix in meinen Rucksack. Ein bisschen fühle ich mich dann, wie mein Alkoholiker-Onkel. Der hat damals ertappt seine Flasche hinter den Zaun gestellt, wenn wir Kinder in den Garten kamen. Dabei wussten längst alle, dass er über den Tag en passant einen Kasten Bier leert. Gleichzeitig empfinde ich das als den primitivsten Akt moderner Höflichkeit gegenüber meinem Kind, dass das Handy verschwindet, wenn es da ist.
“Mama, guck mal!”
Aber das schlechte Gewissen bleibt. Denn viele Dinge, die man auf dem Handy macht, lenken ab und lassen einen abwesend sein. Vor allem die Interaktion mit Anderen via Social Media finde ich heikel. Ich bekomme öfter mit, wie Kinder auf dem Spielplatz immer wieder “Mama, guck mal was ich kann” krähen. Während die Eltern nicht reagieren, weil sie dabei sind, ihr Smartphone zu streicheln. Und vermutlich Insta-Storys von Wildfremden liken. Dabei will doch das eigene Kind gerade dringend geliked werden! So ganz krass analog.
Patriarch hinter der Zeitung
Ich habe auch schon Eltern erlebt, deren ganze Aufmerksamkeit ihrem Smartphone gilt. Und die sich erst dann ihren Kindern zuwenden, wenn sie den Nachwuchs fotografieren wollen. “Setz dich zu deiner Schwester. Du sollst dich zu deiner Schwester setzen! So, und jetzt hergucken. Beide!” Danach dürfen die Eltern wieder nicht behelligt werden, weil das Foto bearbeitet und direkt hochgeladen werden muss. Dagegen war der Patriarch, der sich am Frühstückstisch hinter der Zeitung verschanzt hat, geradezu präsent. Und der galt in meiner Kindheit als das Sinnbild für den abwesenden Vater.
Emotional anwesend
Ich bilde mir ein, dass ich vor allem solche Dinge versuche am Handy zu erledigen, bei denen ich trotzdem noch emotional anwesend bin. Ich schipper möglichst wenig durch Social Media Kanäle. Und wenn ich auf Whatsapp eine Nachricht schreibe, dann erkläre ich meinem Kind, was ich tue und warum das gerade jetzt sein muss.
Die Ablenkungshölle
Ich lese meistens Zeitung und büffel Französisch. Aber es passiert dann natürlich auch, dass ich noch fix bei Facebook vorbeischaue (ja, ja, ich bin schon alt). Und hier und da like … Und mal eben gucke, was gerade auf Twitter läuft und … Verdammt! Ja, das Smartphone ist das weit aufgestoßene Tor zur Ablenkungshölle. Ich will so gerne diszipliniert sein und — Zack! Bin ich wieder voll druff.
Schonungsloser Spiegel
Doch spätestens, wenn mein Kind sein erstes Handy oder Smartphone bekommt, werde ich mein Mediennutzungsverhalten schonungsloser gespiegelt bekommen, als mir lieb ist. Oder anders gesagt: Ich kann schlecht mit dem Smartphone in der Hand meinem Kind sagen, es soll endlich mal die verdammte Technik weglegen. Ich selbst habe es als Jugendliche erlebt: Mit der Kippe in der Hand meinte mein Vater zu mir, dass mein ständiger Schwarzteekonsum nicht gesund sein kann. Das war eher unfreiwillig komisch. Und das soll mir nicht passieren. Also fange ich jetzt schon mal an, mein Verhalten zu reflektieren und an mir zu arbeiten.
Digitale No-Gos
Auch wenn es mich an meinen beschämten Onkel erinnert, weil mein digitaler Konsum durchaus Züge von Sucht aufweist: Das Smartphone kommt aus der Hand, wenn ich mit dem Kind spreche. Reden und gleichzeitig aufs Display glotzen ist ein No-Go. Das finde ich auch unter Erwachsenen unhöflich. Jesper Juul hat mal gesagt, dass manche Eltern mit ihren Kindern auf eine so grobe Weise umgehen, die sie selbst z.B. von Arbeitskolleg:innen nie akzeptieren würden. Da ist viel dran, finde ich. Also: Verhalte dich deinem Kind gegenüber so, wie du selbst gern auf dem Arbeitsplatz behandelt werden möchtest.
Innere Stille ertragen
Ich gelobe, mich mehr analog zu beschäftigen. Ich werde wieder mein Strickzeug als Zeitvertreib für den Spielplatz einpacken (Öko-Vorbild!). Ein Buch mitzuschleppen, ist mir zu schwer. Außerdem mag ich Bücher nicht häppchenweise lesen (Literatur-Snob!). Quatschen mit anderen Eltern bzw. in der Regel mit anderen Müttern ist ausdrücklich erlaubt (echte soziale Interaktion!). Weitere Optionen sind: Einfach mal dem Zwitschern der Vögel lauschen. Den Duft der Linden schnuppern. Und wieder lernen, die innere Stille zu ertragen.
Stay tuned.