Dienst nach Vorschrift
Seit Wochen gärt dieser Text in mir. Es geht um das leidige Thema “Corona und Schule”. Mir liegt so vieles auf dem Herzen und noch mehr auf der Zunge.
Ich will so dringend motzen, aber ich will nicht in Lehrer-Bashing verfallen. Das ist die dunkle Cousine vom Cat Content — Daumen hoch garantiert. Das ist so billig. Zum klatschen auf dem Balkon bin ich allerdings auch noch nicht gegangen.
Kann das deutsche Schulsystem flexibel sein?
Und je länger ich darüber nachdenke, umso alberner kommt es mir vor, mich darüber aufzuregen, wie fantasielos und unflexibel die Schule von meinem Kind auf die Herausforderungen der Corona-Krise reagiert hat. Hallo!? Wir reden vom deutschen Schulsystem. Das ist so, als würde ich mich darüber aufregen, dass auf Autobahnen gerast und in Kirchen gebetet wird.
Pädagogik wie Anno 1975
Dass in der Schule immer noch der Muff der alten Tage hängt, war mir doch schon vor Corona klar. Und im Prinzip auch schon, bevor mein Kind eingeschult wurde. Als ich am Tag der offenen Tür in der zukünftigen Schule meines Kindes beim Matheunterricht in der ersten Klasse zugucken durfte, mussten sich die Kinder anstellen und nacheinander große Zahlen auf der Tafel mit Kreide nachspuren. Das war so 1975, wie die Kleinen voller Tatendrang herumstanden und warten mussten und erwartungsgemäß aus Langeweile anfingen zu rangeln. Und von der Lehrerin noch erwartungsgemäßer zur Ordnung aufgerufen wurden.
Corona zeigt die Sollbruchstellen.
Letztlich habe ich das so hingenommen, weil Schule nun einmal so ist, und weil die Lehrkraft, die mein Kind abbekommen hat, wirklich angenehm und unaufgeregt ist und gut zu meinem Kind passt und sich alles insgesamt ganz gut zurecht geschüttelt hat.
Tja, dann kam Corona und brachte überall die Sollbruchstellen zum knirschen. Jetzt reichte es nicht mehr aus, dass sich Dinge zurecht schütteln. Wenn plötzlich alle Regeln außer Kraft gesetzt sind, herrscht an einem Ort wie der Schule, wo Dienst nach Vorschrift der Normalfall ist, blankes Chaos.
Aber warum hatte man eigentlich keine Vorschriften für den Notfall? Es ist doch erst 30 Jahre her, dass Berlin Frontstadt war. Irgendwo musste es doch Senatsschubladen geben, in denen Regelungen für den Schulbetrieb in Krisenzeiten schlummerten. Oder gab es vielleicht sogar welche?
E‑Mails? Neumodischer Kram
In meiner Fantasie stelle ich mir das so vor: Irgendwann nach der schweren Grippewelle von 1969/70, bei der übrigens auch schon Schulen geschlossen wurden, saß in einer eierschalenfarbenen Berliner Amtsstube ein Senatsbeamter und hämmerte einen Bildungs-Notfallplan in seine mechanische Schreibmaschine. Der ging als Durchschlag an alle Bezirke, verschwand in schwarzen Aktenordnern und wurde über die Jahre vergessen. Und dann hatte man plötzlich die Pandemie im Land und irgendwer kurz vor der Pensionierung erinnerte sich, fischte die vergilbten Papiere aus dem Ordner und schickte sie in Kopie an alle Schulen — und ausgerechnet unsere Schule nahm dieses Schreiben ernst.
So muss es gewesen sein. Anders kann ich mir nicht erklären, dass es von der Lehrkraft anfangs nur Anrufe gab (mit unterdrückter Nummer, genau wie früher). Deshalb mussten die Kinder wöchentlich zur Schule spazieren und sich in der Turnhalle ihre abgehefteten Arbeitsblätter abholen. Deshalb war die Lehrkraft meines Kindes auch nach Wochen des Lockdowns unsicher, ob sie eigentlich mit uns Eltern über ihre Schul-E-Mail-Adresse kommunizieren durfte — dazu stand gewiss nichts in dem ollen Notfallplan, diesen neumodischen Kram gab es damals ja noch gar nicht. Und deshalb hat man auch nicht aus den Lehrkräften, die Risikopatienten sind, und die man nicht mehr direkt in der Schule einsetzen darf, eine digitale Task Force gemacht — solche Ausdrücke waren schlicht noch nicht erfunden, als die Anweisungen niedergeschrieben wurden. Ja, so wird das alles gewesen sein. So und nicht anders.
Beweglich wie ein manövrierender Tanker
Der Fairness halber sollte ich sagen, dass es auch Teile des Kollegiums gegeben hat, die kreativ genug waren, moderne Kommunikationsmöglichkeiten zu nutzen, um mit ihren Klassen und den Eltern in Kontakt zu bleiben. Und dabei sogar riskiert haben, von Datenschutzbeauftragten abgemahnt zu werden (siehe Thüringen). Und auch unsere Lehrkraft hat sich (nach genug Gemaule der Eltern) immerhin eine private Mailadresse für die Corona-Zeit zugelegt.
Aber das Ganze hatte die Beweglichkeit eines manövrierenden Tankers. Entsprechend sind meine Erwartungen gedämpft, dass es für das neue Schuljahr irgendwelche Kursänderungen gibt. Oder besser: Eingedampft. Oder noch besser: Verdampft? Es gärt schon wieder.
Stay tuned.